Falschbehauptungen versus Meinungsfreiheit

Am 27.03.2025 titelte die BILD-Zeitung „Neue Koalition will Lügen verbieten – „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt““ [1] und bezieht sich dabei auf ein Verhandlungspapier der Arbeitsgruppe „Kultur und Medien“ [2]. Das Medienecho ist recht groß, das Thema bewegt die Gemüter, also: Was ist da los? In diesem Artikel wollen wir uns auf etwas abstrakterer Ebene dem Sachverhalt nähern und analysieren, welche Grundsätze gelten müssen, damit es Meinungsfreiheit im demokratischen Sinne geben kann.

Der Gute Gedankengang

Nun, zuallererst appelliert der Vorstoß an das gute Gewissen der Bürger. Wer kann denn schon etwas gegen Lüge, Hass und Hetze oder auch die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen haben? Ist es nicht gut, die Lüge, Hass und Hetze zu verbieten? Wie lange haben wir schon unter Falschaussagen gelitten? Wie oft wurden wir schon in die Irre geführt? Wieviel Leid könnte uns diese Verbot ersparen?

Was ist denn mit denen, die die Lüge nicht verbieten wollen? Was treibt sie an? Die können doch keine guten Motive haben? Wenn wir die Lüge verbieten wollen, dann machen wir das, weil wir die Welt besser machen wollen. Und die Weltverbesserer sind halt die wirklichen Guten, oder? Dann könnten wir doch zusammen mit der Lüge, direkt auch alle die „abschaffen“, die das Recht auf die Lüge verteidigen wollen, oder gar es wagen sich uns zu widersetzen, oder?

Und somit ist der hehre Ansatz, das Gute zu bewirken, in das Gegenteil umgeschlagen. Man findet sich in einer Situation wieder, in der es zwingend zu Spaltung und Verfolgung Andersdenkender kommt. Und genau da wollten wir Deutschen eigentlich nie wieder hin. Irgendetwas kann also nicht stimmen, nur was?

Analyse des Gedankenganges

Das interessante an der oben aufgeführten Argumentation ist, dass sie logisch korrekt ist, streng aufeinander folgt und folgerichtig aufbaut. In der Argumentation, oder in vielen ähnlichen, gibt es also keinen „Fehler“, den am angreifen kann. Was ist denn dann nicht korrekt? Wie kann es zu dieser paradoxen Situation kommen, von ganzem Herzen und mit reinen Motivationen das Gute zu wollen, und das Böse zu bewirken?

Logisch gibt es tatsächlich nur noch eine Möglichkeit, nämlich: dass die Grundannahmen falsch sind.

Grundsätzlich gilt:
Wenn das Ergebnis einer Argumentationskette falsch ist, die Argumentationskette aber streng logisch und korrekt aufeinander aufbaut, sodass sie nicht zu beanstanden ist, müssen die Grundannahmen der Argumentationskette falsch sein.

Denn ist eine Grundannahme inkorrekt, kann man zwar logisch auf ihr aufbauen, wird aber nur genauso inkorrekte Schlüsse ziehen können. Es ist dabei egal, wie intellektuell ästhetisch anmutend die Argumentationskette auch wirken mag.

Welche Grundannahmen haben wir getroffen und welche davon sind nicht korrekt?

Wir haben folgende Grundannahmen getroffen

  1. Lügen haben negative Auswirkungen und sind deshalb schlecht.
  2. Lügen zu verbieten ist gut.
  3. Lügen nicht zu verbieten ist schlecht.

All diese Grundannahmen beinhalten das Wort „Lügen“. Was bedeutet es und wie ist die Lüge definiert? Bei der Lüge kommen zwei Punkte zusammen, nämlich die Unwahrheit und eine absichtliche Verbreitung (bewusst anstelle der Wahrheit). Auch wenn die Absicht vielleicht von außen schwer nachzuweisen ist, ist diese klar definiert. Bei der Unwahrheit wird es schwieriger.

Ich würde Unwahrheit über das definieren, was sie eben nicht ist, nämlich die Wahrheit. Wahrheit ist das was wahr und somit korrekt und richtig ist. Alles davon Abweichende ist Unwahrheit. Auch wenn ich fest davon überzeugt bin, dass es nur die eine Wahrheit gibt, und es somit theoretisch möglich ist, Unwahrheit theoretisch zweifelsohne zu definieren, stoßen wir direkt auf eine Limitierung. Diese Limitierung ist so fundamental, dass sie charakteristisch für die Menschheit ist, denn wir kennen oder besitzen die ganze Wahrheit nicht. Das haben wir noch nie, und es ist fraglich, ob wir das jemals werden.

Erkenntnisgewinn und Wissenschaft

Wenn Erkenntnisgewinn das in Erfahrung bringen von vorher verborgenen Teilen der Wahrheit ist, ist der Fakt, dass wir bspw. Wissenschaft betreiben, ein Eingeständnis, dass wir die ganze Wahrheit nicht kennen. Wir können Hypothesen zu einem Sachverhalt aufstellen aufgrund derer wir Vorhersagen aufstellen, die wir dann testen können. Stimmen die Vorhersagen mit den Ergebnissen des Experimentes überein, nehmen wir die Hypothese als wahr an (zumindest in ihrem Geltungsbereich), und falls nicht, war die These unwahr und muss geändert oder verworfen werden. Wir kennen die ganze Wahrheit nicht, auch wenn wir manchmal das Gefühl bekommen (könnten), dass bereits alles bekannt ist.

Identifikation von Lügen

Da wir die gesamte Wahrheit nicht kennen, und auch kein Politiker oder Beamter kann das von sich behaupten, können wir nicht immer Unwahrheiten und somit Lügen praktisch zweifelsohne als solche identifizieren. Außerdem muss man auch Thesen aufstellen dürfen, die erst später getestet und ggfs. falsifiziert werden können. Überzeugt eine erfolgte Falsifizierung nicht alle, werden einige von der These als „wahr“ weiter ausgehen, in welchem Fall eine Seite nicht korrekt sein kann, und somit eine Lüge, zumindest aber ein Unwahrheit, vorliegt. Auf der anderen Seite stellt eine allgemein anerkannte Falsifizierung einer Hypothese nicht zwangsweise ein Beweis für die Wahrheit dar, Denn es kann schließlich sein, dass eine scheinbare Falsifizierung oder Bestätigung einer These aufgrund von systematischen Mängeln oder Fehler falsch gewesen ist, man sich also über etwas geirrt hat. Hier wäre es unbedingt wichtig, dass selbst die Minderheit ihre scheinbar falsifizierte Hypothese nach wie vor vertreten und verbreiten darf, unabhängig vom eigenen Urteil.

Was ich damit sagen will, dass unsere Erkenntnis über das was wahr ist, lückenhaft ist. Selbst über das was wahr ist, muss zumindest debattiert werden können und die Wahrheit muss in Frage gestellt werden dürfen. Es sollte unser Bestreben sein, der Wahrheit immer näher zu kommen und den größtmöglichen Erkenntnisgewinn zu generieren. Aber aufgrund der menschlichen Beschränkung die Wahrheit komplett zu sehen, kann nie komplett und zweifelsohne geurteilt werden, ob eine Aussage eine Lüge oder Falschaussage war oder nicht.

Aufruf zur Demut
Ohne absolute Erkenntnis über die Wahrheit, keine absolute Verurteilung von Hypothesen als Unwahrheit.

Außerdem können verschiedene Menschen unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit haben und sich ihr Urteil über das was wahr ist, folglich deutlich unterscheiden. Wie oder wer kann entscheiden, wer die Wahrheit nun besitzt? Verfolgt man nun alle die Äußerungen, die der eigenen Sicht der Dinge, die wahr zu sein scheinen, nicht entsprechen, kann nicht ausgeschlossen werden, auch Wahrheiten zu als falsch zu brandmarken, zu verwerfen und so falsche Entscheidungen zu treffen oder Weltbilder zu entwickeln.

Politik und Wahrheitsministerium

Bisher sind wir von noblem Motiven ausgegangen. Was ist wenn niedere Beweggründe hinter diesem Vorstoß der Politiker stecken und der Appell an die Moral nur vorgeschoben ist? Lüge muss als Gegenteil der Wahrheit definiert werden, wir sehen die Wahrheit nur stück- und lückenhaft. Sollte es also eine Instanz wie ein Wahrheitsministerium geben, die Aussagen als Falschaussagen beurteilt, muss diese von einer eigenen Version der Wahrheit ausgehen. Diese eigene Version der Wahrheit kann, wie oben hergeleitet, nur subjektiv und nie objektiv aber auch nur lückenhaft sein. Das heißt, dass eine solche Version der Wahrheit, die die Grundlage über das Urteil von Aussagen ist, immer politisch gefärbt ist (das Ausmaß ist variabel). Vielleicht hat der ein oder andere Politiker die Hoffnung seine eigene Weltsicht und Parteiideologie hier einfließen zu lassen, um somit politisch unliebsame Aussagen unterdrücken und seine eigene Meinung oder Ansicht propagieren zu können. Sollten die aktuellen Politiker diesen Hintergedanken nicht haben, ist nicht ausgeschlossen, dass Politiker der nächsten oder übernächsten … Regierung genau diese Absicht haben. Ich möchte damit sagen, dass ein solches Ministerium, welches über den Wahrheitsgehalt von Aussagen brütet, leicht als Macht- und Unterdrückungsinstrument verwendet werden kann.

Einsicht
Der Vorstoß, bewusste Falschaussagen zu verbieten, mag zwar edel klingen, ist aber in der Praxis nicht nur logisch fragwürdig sondern hochgradig gefährlich und bedroht nicht zuletzt das, was es eigentlich zu schützen vorgibt: die Meinungsfreiheit.

Ich sehe keine andere Möglichkeit als dass jeder, dem die Meinungsfreiheit etwas wert ist und der sich zum demokratischen Spektrum zählt, einen solchen Vorstoß verurteilen müsste. Da dieser Vorstoß aber aus der Mitte der beiden (ehemaligen) Volksparteien kommt, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, wie demokratisch ihre Vertreter tatsächlich (noch) denken.

Vielleicht sollten sich Politiker vergegenwärtigen, dass auch sie oftmals die Unwahrheit sagen und lügen. Zwar nicht immer, aber dennoch leider oft genug. Z.B. habe ich noch die Aussagen des scheidenden Gesundheitsministers Karl Lauterbach im Ohr, der zum Anfang der Corona-Impfkampagne in Talkshows oder bei Twitter frequentiert versichert hatte, dass die Impfung nebenwirkungsfrei sei. Aktuell bestreitet er diese Aussage.

Oder, wie sieht das mit den vor der Wahl gemachten Versprechungen an die Wähler aus? Ich erinnere an den Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021, wo die Grünen mit dem Titel „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete.“ geworben haben, sich aber nach der Wahl massiv für Rüstungsexporte an die Ukraine eingesetzt haben und es immer noch tun. Es gibt aber auch ganz aktuelle Beispiele, wie die Versprechungen von Friedrich Merz vor der Wahl 2025, die Grenzen dicht zu machen, die Migration zu begrenzen, die Schuldenbremse beizubehalten, … Die Liste ist lang und Wählertäuschung ist auch Lügen. Wer also ein Wahrheitsministerium fordert, sollte sich die Folgen für die eigene Nase gründlich überlegen.

Sollte ein Wahrheitsministerium kommen, und Herr Lauterbach, Frau Baerbock, Herr Merz oder wer auch immer, jemandem ein Dorn im Auge sein, wäre es ein Leichtes ihn mit Hilfe dieses Wahrheitsministeriums politisch kaltzustellen. Diese Beispiele sollen zeigen, mit einem solchen Ministerium würde man der politischen Willkür Tür und Tor öffnen, obwohl die Anfangsaussage bewusste Falschaussagen verhindern zu wollen, genau das Gegenteil suggeriert.

Alternative

Naja, sind wir mal ehrlich, es ist schon viel Wasser den Rhein heruntergeflossen, und die Menschheit hat es bis dato noch nicht geschafft das Lügen zu abzustellen. Ein Verbot der neuen Regierung wird daran nichts ändern. Muss man mit der Lüge leben? Die Antwort ist ja, denn nur wenn man die Wahl zwischen Meinungen, Aussagen oder Hypothesen hat, kann man sich für die richtigste entscheiden. Wird nur eine Meinung zugelassen, und keine Meinung ist universalgültig, wird es immer Widersprüche geben.

Ist man denn der Lüge gnaden- und schutzlos ausgeliefert? Gnadenlos bestimmt. Sie macht vor niemanden halt. Schutzlos? Mit Nichten! Wir haben einen Verstand, den wir verwenden sollten um selbst zu denken. Mit diesem können wir Argumentationsketten und deren Grundlagen analysieren. Wir können Freunde und Bekannte nach ihren Meinungen fragen. Wenn wir einen Standpunkt oder eine Meinung nicht verstehen, können wir uns mit der auseinandersetzen und ggfs. lernen. An keinem dieser Punkte sind wir auf das Urteil eines Wahrheitsministeriums angewiesen.

Fazit

In meinen Augen hat keiner mehr Recht ihre Auffassung über die Wahrheit kundzutun und zu verbreiten, als der andere. Daraus folgt, dass auch widersprüchliche Thesen geteilt werden dürfen, selbst wenn Dritte von dieser Meinung sofort als Falschaussage ausgehen. Thesen müssen ausgesprochen werden dürfen, um sie testen zu können. Da Tests manchmal fehlerhaft sein können, kann man im Normalfall nicht zu 100 % urteilen, ob eine These falsch ist oder nicht. Außerdem besitzt keiner die ganze Wahrheit, was bedingt, dass unser Weltbild immer lückenhaft bleibt. Deshalb muss in einer demokratisch-freiheitlichen Grundordnung das Recht auf freie Meinungsäußerung das Recht auf die Äußerung von Unwahrheiten und deren Verbreitung beinhalten, auch wenn ich mich lieber mit der Wahrheit auseinandersetze.

Referenzen

[1] Filipp Piatov, „Neue Koalition will Lügen verbieten“, BILD-Zeitung, 27.03.2025 – 22:54 Uhr, Link
[2] Eva Maria Braungart, „Koalition will Lügen verbieten? „Kann nicht sein, dass sich der Staat zum Wahrheitsministerium aufschwingt“, Berliner Zeitung, 28.03.2025 – 12:43 Uhr, Link

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert